vom herd
zur heldin

Schon seit fast 100 Jahren ­entführt uns der Filmgigant Walt Disney in seine magischen Welten. Geschichten über Prinzessinnen und Prinzen, Freundschaft und Liebe prägen seither mehr als nur die Kindheit Vieler.

Disney kreiert seit jeher das Bild einer gefühlvollen Welt, in der das Gute siegt und die schöne Prinzessin am Ende ihren ­Prinzen­ findet. Doch insbesondere durch die frühe Einflussnahme im Kindes­alter können zudem auch ­Werte vermittelt und Rollenbilder entscheidend geprägt werden. Wie stark beeinflusst zum Beispiel das bei Disney präsentierte Frauenbild unsere heutige Gesellschaft und wie hat sich dieses Bild im Laufe der Jahre ­gewandelt?

Vergleicht man die frühen Disney-­Prinzessinnen, lassen sich ­optische Gemeinsamkeiten ­erkennen: Große Augen, ­langer Hals, schmale Schultern, Wespentaille, Beine, die jeder anato­mischen Logik ­widersprechen und perfekt gestyltes, langes Haar – das ist das Disney Schönheitsideal. Die klassische Disney-Frau ist wunderschön, feminin und sucht ihr Glück in der Liebe zu einem Prinzen. Besonders in den Anfängen spielen Charakter und Fähigkeiten, abgesehen von denen, die eine gute Hausfrau benötigt, eine untergeordnete Rolle.

Im 1937 erschienenen Film »Schneewittchen und die sieben Zwerge« wird die Vorreiterin aller Disney-Prinzessinnen als schön, gehorsam, bescheiden und optimistisch beschrieben. Sie führt den Haushalt, während die Zwerge arbeiten gehen, und wartet passiv auf die Errettung durch einen Prinzen. Betrachtet man den Film im zeitlichen Kontext, entspricht Schneewittchens Darstellung dem Rollenbild der damaligen Zeit. Die ideale Frau der 30er Jahre war die perfekte Hausfrau und küm­merte sich mit Hingabe um die Erziehung der Kinder und um das Wohlergehen des Ehemannes. Der Mann als Alleinverdiener war derjenige, der die Familie ernährte und wichtige Entscheidungen traf. Die Frau blieb in allen Belangen von ihm abhängig.

Der Mann war der Held. Dieses Rollenbild spiegelte sich in den 30er Jahren auch in den ­Disney-Filmen wider. »Ach kommt nur bald mein Prinz« singt Schneewittchen und wartet im Haus der Zwerge auf ihre Erlösung, die sie selbst nicht herbeiführen kann. Nur der Prinz, der aus dem Nichts kommen soll, ist als Held in der Lage alles zum Guten zu wenden. Das Schicksal der Frau liegt in den Händen des Mannes. Betrachtet man das Verhältnis von Männern zu Frauen innerhalb des Filmes, zeigt sich auch dieses auffällig unausgeglichen. Zehn Männern stehen gerade einmal zwei Frauen gegenüber. Und auch wenn die Redeanteile von Männern und Frauen im Film »Schneewittchen« relativ ausgeglichen sind, wird ­Schneewittchen allein auf ihr Aussehen und ihre Rolle als Hausfrau reduziert.

Schneewittchen wird in 55 % der ­Fälle für ihr ­Aussehen ­bewundert und in nur 11 % für ihre Fähigkeiten gelobt, welche ­wiederum hauptsächlich aus singen und putzen bestehen. In den 50er Jahren dominieren die Disney-­Frauen mit ihren Redeanteilen, trotz eines relativ ausgeglichenen Verhältnisses von Frauen zu Männern. Cinderella (1950) kommt in ihrem Film auf einen Redeanteil von 60 %, ­Dornröschen (1959) sogar auf 71 %. Das Frauenbild bleibt von dieser Entwicklung aber weiterhin unbe­rührt. In den Filmen, wie in der Realität, ist die Rolle der Frau weiterhin eine passive. Die Frau bleibt abhängig von ihrem Mann, ihrem Prinzen, auf den sie ihr gesamtes Leben ausrichtet. In den 50er und 60er Jahren wurden biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau als Grundlage für die Legitimation einer nicht gleichberechtigten Gesellschaft herangezogen. Die Frau blieb – durch das Ehe- und Familienrecht zusätzlich eingeschränkt – in erster Linie Hausfrau.

Ende der 60er bis in die 90er Jahre hinein entwickelte sich in der Gesellschaft eine ­feministische Strömung, deren zentrale Forde­rung die soziale Gleichstellung von Frau und Mann darstellte. In dieser sogenannten zweiten Welle der Frauenbewegung spiegelte sich für viele ein psychologischer Befreiungsprozess wider. ­Frauen forderten das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht eigene Entscheidungen treffen und ein unabhängiges Leben führen zu dürfen. Mit dem gesellschaftlichen Umbruch ging auch eine langsame Veränderung des Disney-­Frauenbildes einher. In dem 1989 ­erschienenen Film »Arielle, die Meerjungfrau« nimmt die Hauptfigur Arielle, zumindest zu Beginn des Filmes, eine bis dahin untypisch ­rebellische Rolle ein. Eine der ersten ­Tatsachen, die man über Arielle erfährt, ist, dass sie nie zu den angesetzten Gesangsproben erscheint. Als erste Prinzessin wird sie nicht als bedingungslos gehorsam dargestellt, sondern folgt ihren eigenen Vorstellungen. Neugierig und mutig widersetzt sie sich dem Willen ihres Vaters, ­um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Männer haben hier, im Gegensatz zum Film »Schneewittchen und die sieben Zwerge«, weniger Einfluss auf das Leben und die Entscheidungen der Hauptfigur.

Doch trotz ihrer zu Beginn des Filmes betont emanzipierten Art scheint Arielle nicht ohne die Liebe des menschlichen Prinzen leben zu können, weswegen sie einen Handel mit der Hexe Ursula eingeht – den Tausch ihrer Stimme gegen menschliche Beine. Arielle ordnet ihrem Wunsch »fort bei den Menschen« zu sein, »dort mit ihnen zu tanzen« alles unter, »[d]enn dort ist man frei« (Arielle, die Meerjungfrau »Ich wünsch mir ein Mensch zu sein«). Um das Leben führen zu können, dass sie sich so sehnlich wünscht, ist Arielle sogar bereit ihre Stimme zu verkaufen und so ist es nicht verwunderlich, dass die Frauen im Film gerade einmal auf einen Redeanteil von 32 % kommen. Auffällig ist, dass die männlichen Parts zwar den höheren Redeanteil haben, dem Gesagten aber meist nur wenig Relevanz beigemessen werden kann. Das liegt z. T. auch daran, dass Disney den männlichen Figuren oft die Rolle des plappernden Begleiters zuschreibt – in diesem Film repräsentiert durch Arielles Begleiter Sebastian die Krabbe und den Fisch Fabius.

Insgesamt betrachtet kann Arielle mit ihrer königlichen Abstammung und ihrer klassischen Schönheit nur bedingt aus dem typischen Disney-Frauenbild ausbrechen. In der von Männern dominierten Welt findet auch sie ihre Erfüllung zuletzt in einem Prinzen, den sie – nach Verlust ihrer Stimme – hauptsächlich durch ihr Aussehen erobert. Ein ähnliches Schicksal durchläuft auch »Belle« aus »Die Schöne und das Biest« (1991). Weil sie anders ist, als die Menschen in ihrem Dorf, fühlt sie sich nicht dazugehörig. Sie sehnt sich nach einem neuen Leben, es zieht sie hinaus in die weite Welt. »Es geht doch nicht, dass ich hier länger bleib« (Die Schöne und das Biest »Unsere Stadt«), singt sie am Anfang des Films. Die Bücher, die sie liest, handeln von fremden Welten und Abenteuern, und verstärken ihren Wunsch mehr aus ihrem Leben machen zu wollen. Sie wird, wie Arielle, als Frau dargestellt, die sich nicht bedingungslos den konservativen Forderungen ihres ­Umfeldes fügen möchte. Auch sie weigert sich, das zu tun, was von ihr erwartet wird, so lehnt sie schockierenderweise den Heiratsantrag des Dorfschönlings Gaston ab. Noch deutlicher zeigt sich ihr Mut, als sie, um ihren Vater zu befreien, freiwillig als Gefangene bei dem Biest bleibt. Unangepasst widersetzt sie sich auch hier bestimmten Regeln. Weder isst sie wie befohlen nur mit dem Biest, noch hält sie sich von dem Westflügel fern. Belle bewahrt sich ihre Neugier und lässt sich zu nichts zwingen. Sie gibt im Streit kontra, kümmert sich aber gleichzeitig auch fürsorglich um das Biest und versorgt seine Wunden. Sie ist die erste Disney-Frau, die bei Männern keinen Wert auf das Aussehen, sondern auf die Persönlichkeit legt und die durch ihre Liebe einen Mann von seinem Fluch befreit und nicht umgekehrt von diesem gerettet werden muss.

In den späten 90er Jahren erreichte die zweite Welle der Frauenbewegung ihren Höhepunkt. Vielen Frauen genügte es zu dieser Zeit nicht mehr, nur formal die gleichen Rechte wie Männer zu besitzen. Das Ziel war die vollständige Emanzipation. Sich für den Mann schick zu machen, galt häufig als verpönt. Erstmalig waren Frauen mehr an beruflichem Erfolg als an der Rolle als Hausfrau und Mutter interessiert. Auch die fiktiven Frauen traten mehr und mehr aus den Schatten der Männer. Diese Frauen konnten kämpfen! Sie waren diejenigen, die ihre Prinzen retteten und nicht umgekehrt.

Die reine Liebesgeschichte stand nicht länger im Mittelpunkt der Erzählung, auch mussten die Hauptfiguren nicht mehr zwingend Prinzen oder Prinzessinnen sein. Im 1998 veröffentlichten Film »Mulan« ist die Protagonistin ein intelligentes, mutiges Mädchen, das gegen die Rollenvorstellungen des mittelalterlichen Chinas ankämpft. Mulan gibt sich dabei als Mann aus, um anstelle ihres Vaters in den Krieg zu ziehen. Damit verzichtet sie zwischenzeitlich gänzlich auf die Rolle der Frau, in deren Stereotypen sie sich jedoch auch vorher nicht wohlgefühlt hatte. »Sieh mich an, niemals werde ich die perfekte Braut« singt sie zu Beginn und fragt sich gleichzeitig wie sie die werden kann, die sie wirklich sein möchte. »Wann zeigt mir mein Spiegelbild, wer ich wirklich bin?« (Mulan »Wer bin ich?«) Fragen nach der eigenen Identität, die sich die frühen, sich über Männer definierenden, Disney-Prinzessinnen niemals gestellt hätten. Durch die genauen Vorstellungen der ­Familie, wie eine Frau zu sein hat und den damit verbundenen Erwartungen an Mulan, befindet sich diese in einem inneren Konflikt. Sie möchte ihre Familie nicht enttäuschen und doch sie selbst sein.

Obwohl Mulan zunächst einen emanzipierten Eindruck macht, kann sie ihre Eigenständigkeit nur als Mann ausleben. Aber auch mit der ebenfalls sehr einseitig definierten Männerrolle kann sie sich nicht ausreichend identifizieren. Der wahre Mann muss »Augen wie ein Adler und ein Herz aus Stahl« haben, schnell sein »wie wildes Wasser«, stark »wie ein Taifun« und geheimnisvoll »wie der Mond« (Mulan »Sei ein Mann«). Nachdem Mulan es mithilfe ihres eisernen Willens geschafft hat kampftauglich zu werden, rettet sie am Ende durch Mut und Intelligenz nicht nur ihre Soldatenfreunde, sondern ganz China. Selbst der Kaiser, als mächtigster Mann, verneigt sich vor ihr und, trotz ihrer als nicht weiblich geltenden Art, verliebt sich der Hauptmann in sie.

Auch wenn in diesem Film zunächst die Stereotypen Rollenbilder bestätigt werden, zeigt er im Verlauf doch auf, dass nicht immer der Weg eingeschlagen werden muss, der einem zunächst vorbestimmt zu sein scheint. Nach der Frauenbewegung des späten 20. Jahrhunderts eröffnet das 21. Jahrhundert viele Möglichkeiten, muss jedoch auch den gestiegenen Erwartungen standhalten. Die früher starren und stereotypen Geschlechterrollen sind weitestgehend aufgeweicht. Klare Vorstellungen davon, was eine Frau zu tun und zu lassen hat, gelten als überholt. Auch die Rolle des Mannes hat sich gewandelt. Während vom einst »starkem Geschlecht« nun ­verlangt wird, dass es offen Emotionen zeigt und sich im Haushalt und bei der Kindererziehung beteiligt, wird von Frauen Eigenständigkeit und berufliche Unabhängigkeit erwartet.

Die früher für Mann und Frau Typischen Attribute werden nicht mehr eindeutig einem Geschlecht zugeordnet. Sie dürfen und müssen von beiden ver­innerlicht werden. In der Disney-Verfilmung des klassischen Märchens »Rapunzel« von 2010 zeigt sich die Hauptfigur bereits deutlich eigenständiger und weniger eindimensional. Auch wenn Rapunzels Hobbys mit putzen, malen und lesen wieder sehr konservativ wirken, geht sie ihren eigenen Interessen nach und bietet ihrer Mutter die Stirn. Sie ist auf der einen Seite kreativ und gefühlsbetont, auf der anderen Seite aber auch selbstständig und unerschütterlich, wenn es darum geht ihre Ziele zu erreichen. Die Prota­gonistin ist nicht bloß eine Gefangene, die im Turm passiv auf ihre Befreiung durch den Prinzen wartet, sondern vielmehr eine Frau, die nach ihrer wahren Bestimmung sucht. Das Hauptaugenmerk der Geschichte liegt dabei weniger auf dem Finden der »großen Liebe«, sondern mehr auf der Mutter-Tochter-­Beziehung. Nach den zunächst devoten und dann eher rebellischen Frauen setzt Disney hier auf eine ausgeglichene Beziehung mit gleicher Beteiligung von Mann und Frau. Hier haben beide Geschlechter einen nahezu ausgeglichenen Redeanteil.

Wie im Film »Mulan« steht auch bei »­Rapunzel« das Aussehen nicht mehr so stark im Fokus. Frauen werden immer weniger für ihr Aussehen und immer mehr für ihr Können gelobt. Rapunzel schneidet sich sogar die schönen, langen Haare ab und tritt mit einer Kurzhaarfrisur auf. Ihr ist es wichtig, nicht länger auf ihr Aussehen reduziert zu werden. Für Disney-Verhältnisse ein starkes Zeichen für das sich langsam modernisierende Frauen­bild. Aber auch bei den Männern reicht es nicht mehr länger nur stark und schön zu sein. Dem Charakter wird insgesamt mehr Bedeutung beigemessen und es entsteht ein intensiver Kennenlernprozess zwischen den beiden Hauptfiguren.

Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich im 2013 veröffentlichten Film »Die Eiskönigin – völlig unverfroren«, in dem es hauptsächlich um die Beziehung der Schwestern Elsa und Anna geht. Obwohl die jüngere ­Schwester ­zunächst dem klassischen »Schönling« ­verfällt, findet sie die wahre Liebe später, eher nebenbei, in dem treuen Gefährten ­Kristoff, den sie im Verlauf des Filmes ebenfalls ­intensiver kennenlernt. Da die Disney-Filme insgesamt seit fast 100 Jahren nicht mehr aus den Kinderzimmern dieser Welt wegzudenken sind, scheint ein verantwortungsvoller Umgang mit dem daraus resultierenden Einfluss umso wichtiger. Auf die gleichberechtigte Darstellung von Mann und Frau, sowie die Vermittlung eines realistischen Schönheitsideals, sollte in einer modernen Gesellschaft Wert gelegt werden. Disney lässt im Bezug auf diese Themen eine positive Entwicklung erkennen, scheint sich hier dem Lauf der Zeit anzupassen und neue Wege hinsichtlich des weiblichen Rollenbildes zu gehen. Das typische, starre Schema, das den frühen Disney-Filmen zugrunde lag, existiert in dieser Form nicht mehr. Die passive Frau, die auf ihre Errettung durch den Prinzen wartet, hat sich zu einer vielschichtigen Person entwickelt, die weiß, was sie will und eigenständig und mutig für ihre Wünsche einsteht. Auch die stereotypen Rollenbilder werden an vielen Stellen aufgebrochen. Frauen werden nicht länger nur auf ihr Äußeres reduziert und dürfen, zumindest in Ansätzen, vom typischen Schönheitsideal abweichen. Auch wenn sich die Hauptfiguren meist weiterhin in unrealistischer Schönheit und Eleganz präsentieren, gibt es immer wieder Ansätze, diesen Trend zu durchbrechen. Die Protagonistinnen in den neueren Disney-Filmen Merida (2012) und Vaiana (2016) zeigen sich beispielsweise mit ungebändigtem Haar und realistischeren Körperproportionen.

Lobten Männer die weiblichen Figuren früher für ihr Aussehen, wird heute eher ihr Können in den Vordergrund gestellt. Handlungen und Personen werden insgesamt komplexer und das Finden der großen Liebe wird nicht mehr länger als alleiniges Lebensziel präsentiert. Auch wenn sich die Darstellung der Protagonistinnen bei Disney mit dem Verlauf der realen Geschichte geändert hat – und vermutlich auch weiter ändern wird – bleiben alte Grundsätze über Hoffnung, Liebe und das Streben nach Glück bis heute aktuell.